Die Weisheit von Trauma
- Simon Reuter
- 25. Sept. 2024
- 5 Min. Lesezeit

Wenn ich gefragt werde, mit welchem Wort ich am ehesten beschreiben würde, was die Geschichte unserer westlichen Kultur oder vielleicht sogar der Menschheit geprägt hat und prägt, antworte ich ohne zu zögern mit „Trauma“.
Viele Menschen leben in traumatisierten Körpern in einer traumatisierten Gesellschaft. Es ist eine unsichtbare Krankheit, ein stiller Schmerz der Seele, der einhergeht mit einem Paradoxon: Das Nicht-Wissen über das eigene Trauma. Sicht nicht-spüren, Abspaltungen, das Gefangensein in der Persönlichkeit. Vieles, das so unnormal ist, fühlt sich so normal und alltäglich an.
Trauma betrifft gewissermaßen jeden, jeder erlebt es, keiner entkommt der sozio-kulturellen Prägung. Für eine neue Erde, eine neue Kultur, eine neue Gesellschaft gibt es nur einen Weg: hinschauen, spüren, integrieren, heilen.
Es erfordert Mut, die herausforderndste, beängstigendste und lohnendste Reise ist die ins eigene Unterbewusstsein, in die eigene Unterwelt.
Trauma stammt ursprünglich aus dem Alt-Griechischen und bedeutet soviel wie Wunde/Verletzung. Der bekannte Trauma-Forscher Gabor Maté unterscheidet zwischen Small-t und Big T-Traumata.
Small-t-Traumata sind jene Ereignisse, in denen unser Selbst zurückgewiesen, kritisiert, abgewertet, sprich verletzt wurde, in der Regel von engen Bezugspersonen. Dies widerfährt jedem Menschen, zugespitzt formuliert sind es alle Ereignisse, in denen wir nicht von der Welt als die Liebe empfangen werden, die wir in unserem Kern sind und immer bleiben werden. Sie führen dazu, dass Teile des Selbst (das Selbst ist die Gesamtheit unserer bewussten und unbewussten Prozesse) sich verlassen und wertlos fühlen. Es entsteht eine innere Abspaltung und damit eine Wunde: die Wunde der Wertlosigkeit.
Jener Teil des Selbst, der so empfindet, verfällt in eine Trauma-Reaktion.
Er zieht sich zurück, vermeidet oder flieht aus Situationen (Flight-Reaktion)
Er verteidigt die eigenen Grenzen offensiv oder überaggressiv (Fight-Reaktion)
Er friert ein in beängstigenden Situationen (Freeze-Reaktion)
Er fühlt sich so, als würde er sterben, kollabiert komplett (Flop-Reaktion)
Oder er passt sich an an andere, überkompensiert, löst sich quasi auf und wird grenzenlos (Fawn-Reaktion)
Die Wunde der Wertlosigkeit ist eine transgenerationale Wunde, sie wird in Familien weitergegeben von Generation zu Generation, so lange, bis ein Familienmitglied die Geschichte beendet und die innere Heil- und Transformationsarbeit macht. Ein Trauma ist ein unterbewusstes Narrativ, es sind jene Geschichten, die tief prägen, was wir glauben, was wir sind.
Die Geschichte stimmt nicht, wir sind im Kern das Opernhaus und nicht das Drama, dass sich in der Oper abspielt. Das Drama wird gekennzeichnet durch Polaritäten und Selbstanteile, die sich überidentifizieren mit dem Inhalt ihrer Gedanken, Gefühle und Bilder. Daraus entstehen inauthentische Rollen, die in Beziehungen ungewollt und unterbewusst inszeniert und gespielt werden. Die Rollen im Spiel wechseln dynamisch zwischen Täter, Opfer und Retter oder man hängt fest in einer bestimmten Rolle. Nichts von dem ist essentiell wahr, auch wenn in der Vergangenheit unrecht geschehen ist. Wenn du dir unsere Kultur betrachtest, siehst du, wie dieses Drama überall reproduziert wird. Es ist die Grundlage in fast allen Filmen, in religiösen Mythen, in der Politik, im Sport. Wir lieben das Drama, wir verabscheuen das innere Drama, sind zugleich süchtig danach.
Darunter liegt Trauma.
Das eigene Drama zu erkennen, zu durchleben und zu verlassen kann eine Lebensaufgabe sein. Dahinter wartet das, was wir wirklich sind und was schon immer da ist:
Liebe, Freiheit, die Weisheit des Körpers, Power und Präsenz.
Eine weitere Paradoxie des Menschseins ist, dass wir zugleich traumatisiert und nicht-traumatisiert sind. Unsere grundlegenste Ebene ist unverletzlich, unzerstörbar und grenzenlos. Das Opernhaus kann nicht beschädigt werden und aus Dramen können mit der Zeit Sinfonien und Harmonien entstehen. Wer das Grenzenlose in sich erfährt, die grundlegende Ebene unseres Bewusstseins, kann auf dieser Basis lernen, gesunde Grenzen zu setzen.
Für Menschen, die Big-T-Traumata erfahren haben, ist dies umso herausfordernder. Dies sind jene Ereignisse, die häufig zu Folgeerkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen, Essstörungen, extremen Persönlichkeitsneigungen (wie Narzissmus, Borderline, passiv-aggressiven Mustern, dependenten Strukturen), Zwangsstörungen, Panikattacken, usw. führen. Damit gemeint sind interpersonelle Gewalterfahrungen, sexuelle Übergriffe, Verkehrsunfälle, Umweltkatastrophen, bis hin zu Krieg, Vertreibung, Flucht und Folter. Jeder 5. US-Amerikaner erlebt ein solches traumatisches Ereignis mindestens einmal, in Deutschland ist die Prävalenz niedriger, in anderen Teilen der Welt ungleich höher, wie du dir sicher denken kannst.
Solche Ereignisse können zu einem stark fragmentierten und polarisierten Selbst führen mit Anteilen, die abgespalten werden und zukünftig dissoziieren. Sie sind nicht mehr Teil des autobiographischen Gedächtnis und dadurch nicht mehr bewusst abrufbar (teilweise indirekt durch sensorische Stimuli wie Gerüche). Eine Reaktivierung der Erinnerung an das Trauma zeigt sich dann in Intrusionen, Flashbacks oder Alpträumen.
Zudem verändert sich das Erleben eigener Ich-Grenzen und der Trennung zwischen dem Selbst und der Welt (den Subjekt-Objekt-Beziehungen). Die Repräsentation von „außen“ und „innen“ wird nach einem Big-T-Trauma brüchig, da auf das überwältigende Ereignis nicht reagiert werden kann, kommt es in der Folge zu einem Selbst-Kollaps. Die traumatisierte Person sieht sich als verletzt und zukünftig verletzbare Person, die Welt gilt als feindlich und unkontrollierbar (vorher war die Welt hinreichend geordnet und gerecht, in der individuelle Sicherheit gewährleistet wurde).
Das Selbst wird als beschädigt und vielfach wertlos erlebt. Es kann seine Kontakte nicht mehr befriedigend gestalten, vor allem unter Belastung, z.B. bei Alltagskonflikten, die vor dem Trauma gut lösbar waren. Die Kontinuität des Erlebens verändert sich, durch das Entsetzen kommt es zu Dissoziation, Panik, Angst und Selbstabwertungen. Bei jeder Wiedererinnerung an das Trauma wird der Abbruch erneut aktiviert und damit Teil des Selbst, es entsteht eine konditionierte (=gelernte) Ohnmachtsreaktion, die sich oft auf immer weitere Situationen ausweitet, vor allem wenn die Situation weiter bestehen bleibt. Der Kontakt zur Welt geht verloren.
Das Hauptziel jeder Form von Trauma-Heilung ist es, den Kontakt und damit die Dialogfähigkeit zur Welt wieder herzustellen. Dies geschieht durch innere und äußere Dialoge, mit abgespaltenen Selbst-Anteilen und verinnerlichten Täter-Anteilen, sogenannten Introjekten. Diese fühlen sich für Betroffene oft an wie eigene Stimmen, gehören aber nicht zum Selbst, sondern dringen durch die beschädigte Ich-Grenze bedrohlich ein in den intrapsychischen Binnenraum.
Die Grenzen des menschlichen Wesens, die Ich-Grenzen, sind durch seine sämtlichen Lebenserfahrungen und seine eingebauten Fähigkeiten bestimmt, neue oder intensivierte Erfahrungen zu assimilieren und zu integrieren. Die Ich-Grenze eines Menschen ist die Grenze der für ihn zulässigen Kontaktmöglichkeiten, sowohl mit der Welt außerhalb seiner selbst wie auch dem Nachhall in sich selbst.
Gesunde Grenzen haben zu dürfen und diese aktiv zu setzen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, zugleich für jeden Menschen essentiell notwendig. Nur so kann der innere Wandlungsprozess geschehen vom Opfer, zum Überlebenden zum Lebenden.
Lebendigkeit heißt, in ICH-DU-Beziehungen mit dem ganzen Wesen einem Mitmenschen präsent gegenüberzutreten. Das beinhaltet das eigene Trauma-Selbst mit all seiner Verletzlichkeit, wenn dieses liebevoll ins Gesamt-Selbst integriert wurde.
Heilung heißt nicht, dass etwas verschwindet. Heilung ist Integration, die Wunde bleibt, ist aber adäquat versorgt und konnte so heilen. Geheilt sein heißt, sich vollständig zu fühlen, es bedeutet nicht, dass dann alles gut ist, sondern dass man damit umgehen kann, was einem widerfahren ist.
Dies beinhaltet zu trauern, Wut erleben können und vor allem wieder zu lernen, in sich, andere und in das Leben bei Wahrung gesunder Grenzen und der Akzeptanz eigener Einflussmöglichkeiten zu vertrauen. Gegensätze werden miteinander vereint und ausgesöhnt. Wenn dies gelingt, wird das eigene Leben danach oft als wesentlich reichhaltiger und erfüllender erlebt.
Dies ist die Weisheit des Traumas, posttraumatisches Wachstum kann der Schlüssel sein zu einer tiefen Sinnhaftigkeit und das Portal sein zum eigenen Seelenweg. Der Heilungsprozess schmerzt. Es ist, wie wenn man sich ein Bein bricht. Es gibt keinen Punkt des Heilungsprozesses, an dem sich das Bein besser anfühlt als vor dem Bruch. So ist es bei Trauma auch, nur besteht hier zusätzlich die Möglichkeit, dass es danach sogar intensiver und befreiender werden kann als davor.
Unser Wunden machen uns zu dem, der wir sind. Sie möchten uns zurückführen nach Hause und uns daran erinnern, woher wir kommen und was wirklich zählt im Leben. Es lohnt sich, hinzuschauen.
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