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Zur Ambivalenz sexuellen Begehrens


Eines der Kernfelder, das mich in meiner Arbeit beschäftigt, umtreibt und fasziniert ist die Auseinandersetzung mit der Psychologie sexueller Begierde. Wieso? Als Therapeut interessiert mich, wie meine Klient*innen ein erfüllendes, verbundenes Leben führen können. Ohne eine Integration der eigenen sexuellen Energie ist dies in nur wenigen Fällen vorstellbar. Als Mann möchte ich meine Sexualität zudem nicht als Problem sehen, sondern als Schlüssel beziehungsweise Portal zu höherem Bewusstsein. Das, womit wir uns in unserer Arbeit beschäftigen sagt meistens etwas über uns selbst aus. Zumindest sollte es so sein, im Idealfall ist das eigene Leben ein tiefer Selbstausdruck und die Realität wird zum Begegnungspunkt der Seele. Ich glaube nicht, dass ich mich zu weit aus dem Fenster lehne, wenn ich behaupte, dass weniger als 20 % aller Paare von einem erfüllenden Sexualleben berichten. Wenn sie ehrlich zu sich sind. Wieso ist das so? Einer der Schlüssel liegt in einem Phänomen, dass ich als Ambivalenz bezeichne. Der Kern der Ambivalenz ist die Nicht-Entscheidung, die gekennzeichnet ist durch Konflikte zwischen Polaritäten in der Tiefe der Psyche.

Erotische Begierde benötigt Ambivalenz, zugleich kann sie zum Problem werden, vor allem in Partnerschaften. Sexuelle Attraktion basiert auf Unsicherheit & auf Verletzlichkeit. Hinter der sexuellen Anziehung zu anderen Menschen liegen die Bedürfnisse nach Liebe, nach Intimität, nach Lust, nach Gesehen-werden und nach Vereinigung. Diese Interpretation ist bewusst positiv formuliert. Aus verwundeten und traumatisierten Selbstanteilen kann Sexualität auch für vieles anderes stehen, für Macht, für Kontrolle, für Dominanz. Was mich interessiert, sind die authentischen, die wahren Motive. Und die führen immer in die Vulnerabilität. Wenn wir jemanden neu kennen lernen und uns auf eine intime sexuelle Begegnung einlassen, kann es zu diesem Moment kommen, an welchem aus der Unsicherheit Klarheit entsteht, Ambivalenz wird überwunden, wenn das Ich fühlt: "ich bin sicher", "ich werde so geliebt wie ich bin", "ich kann mich natürlich zeigen mit meinen Wünschen und Sorgen". Hier ist nun der springende Punkt und zugleich das Hauptproblem, um welches sich die meisten Paardynamiken und -konflikte kontinuierlich kreisen. Kann ich in meiner Beziehung wirklich so sein, wie ich bin? Kann ich meine sexuelle Essenz zum Ausdruck bringen? Viele Paare neutralisieren sich nach einer Anfangsphase der Exploration und Entwicklung. Aus der initialen Ambivalenz folgt Sicherheit und die implizite, unterbewusste Einigung auf den kleinsten gemeinsamen sexuellen Nenner. Erotische Begierde kommt zum erliegen, oder aus einer tantrischen Perspektive: Polaritäten schwächen sich ab, das Paar wird sich zu ähnlich, gleicht sich an und wird so energetisch homogen. Ambivalenz ist so ein vielschichtiges Phänomen. Die Entwicklung als Paar erfolgt durch Konflikte, in denen die Unsicherheit immer wieder überwunden wird und neue Sicherheiten gefunden werden. Das Problem ist, dass wahrgenommene Ambivalenz tendenziell zu konservativen Entscheidungen führt, sprich zu Nicht-Entscheidungen. Die Nicht-Entscheidung basiert auf Ängsten, Sorgen und Zweifeln und führt dazu, dass die heißen Themen in der Paar-Dynamik vermieden und nicht angesprochen werden. Dieser nicht gelöste Konflikt wird auf das sexuelle Feld übertragen, die Folgen sind Unlust, das sexuelle Hauptsymptom unserer Zeit. Bei Männern zeigt sich dies durch frühzeitigen Samenerguss, Ejakulationsprobleme, fehlende Begierde und oft auch einen niedrigen Testosteronspiegel. Frauen, die unter Orgasmusschwierigkeiten leiden oder Schmerzen haben beim Sex, haben ebenso meist einen zu Grunde liegenden Ambivalenzkonflikt. Dies ist nicht die einzige Ursache, aber aus meiner Perspektive die entscheidende. Auf der Paarebene sind die Lösungsansätze vielschichtiger Natur. Zum einen benötigt es eine neue Form der Paarkultur, die eine tiefere Ebene der Intimität ermöglicht. Intimität entsteht durch authentische Selbstauskunft, in der sich beide Partner echt, roh und verletzlich zeigen können. Zudem erfordert es Mut und Risikobereitschaft, über die heißen Themen sprechen zu dürfen. Dies kann das Teilen bisher nicht ausgesprochener sexueller Fantasien sein, ebenso wie das Sprechen über wahrgenommene Verletzungen. Letztlich lebt Begierde in der Partnerschaft davon, sich immer wieder aufs Neue füreinander zu entscheiden. Es ist eine Illusion, dass das "Ja" für den Partner immer bedingungslos ist. Ja, Liebe kann bedingungslos sein, aber sexuelle Begierde benötigt die Bedingtheit und die Ambivalenz. Wer dies versteht und verkörpert, kann mit Ambivalenz und inneren Polaritäten arbeiten. So entsteht Raum für Fantasiereichtum und Kreativität, für ein spielerischen Zugang zum sexuellen Feld. Lust basiert auf der Bereitschaft, offen zu sein, sich überraschen zu lassen, sich Begegnungen hinzugeben, und sich von Erwartungen zu lösen. So kann die sexuelle Magie erscheinen, die sich viele Menschen wünschen. Sie ist nicht kontrollierbar, sondern wird in einem lebendigen Tanz der Polaritäten erschaffen. Auf dieser Basis kann ein tiefes Ja entstehen. Es ist die Reise aus der Ambivalenz in die Liebe, die stets aufs Neue erfolgt. Ein Paar kann seine Beziehung nach diesen Prinzipien ausrichten und so kontinuierlich erneuern. Mit folgenden Fragen kannst du dich vertieft mit einer Ambivalenz in deiner Partnerschaft auseinandersetzen:

1. Wann empfindest du starke erotische Begierde für dein Partner, deine Partnerin? 2. Was passiert mit eurer sexuellen Anziehung, wenn ihr viel Zeit miteinander verbringt? 3. Wenn du sexuelle Unlust empfindest, welche Botschaften sendet dein Körper dann aus? Sowohl an dich als auch deinen Partner/deine Partnerin? 4. Welche Routinen hast du, um die Polaritäten in deiner Beziehung zu stärken, sprich: lebst du deine Individualität, wie stärkst du deine sexuelle Essenz, wie gehst du deinen Weg außerhalb der Partnerschaft? 5. Wie gehst du mit sexuellen Fantasien in deiner Beziehung um, sprichst du sie an, erlaubst du dir die Exploration? 6. Was an deinem Partner/deiner Partnerin ist es, dass dich anturnt und abturnt? Wie sehr fühlst du dich in deiner sexuellen Essenz und einen zentralen Bedürfnissen gesehen und ernst genommen? 7. Welche Wunden nimmst du wahr, die dein Partner/deine Partnerin antriggert. Wann fühlst du dich zurück- oder abgewiesen, sowohl innerhalb als auch außerhalb sexueller Begegnungen? 8. Wenn du mutiger wirst, was sprichst du denn an? 9. Was ist deine Vision von einer langfristig erfüllenden Sexualität, wenn du diese Frage nur für dich, unabhängig von deiner Partnerschaft beantwortest 10. Was hält dich zurück, deiner erotischen Begierde zu folgen?

 
 
 

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