Der Fluch des männlichen Narzissmus
- Simon Reuter
- vor 4 Tagen
- 8 Min. Lesezeit

Einführung Es gibt wohl wenige Probleme, die unsere gegenwärtige Zeit so prägen, wie das Phänomen des Narzissmus. Man sieht es überall, in der Politik, in den Chefetagen von Unternehmen, auf Social Media, in der Kunst, im Fernsehen, in Familien, in Beziehungen. Wir leben im Zeitalter des Narzissmus. In einer Kultur, die geprägt ist von hyperindividualistischen Tendenzen und einer kapitalistischen Konsumkultur, in der jeder den Gott in seinem eigenen Universum spielen kann. In Gesellschaften, in denen Leistung, Status, Macht, Geld & Sex die ultimativen Formen von Anerkennung und Wichtigkeit sind. Es liegt nahe, in einer solchen Welt die Vergrößerung des eigenen Ichs zur Ultima Ratio zu erheben. Dennoch möchte ich einen Schritt zurücktreten. Dieser Artikel verfolgt nicht das Ziel, narzisstische Strukturen zu pathologisieren. Vielmehr ist es die Suche nach Antworten, wie wir als kollektiv und du in deinem eigenen Leben mit diesen Mustern der Persönlichkeit einen gesunden Umgang finden kannst. Wir werden alle davon umgeben und haben im Laufe unseres Lebens zuverlässig Berührungspunkte mit Individuen oder sozialen Gruppen, die von narzisstischen Strukturen geprägt sind. Auf dieser Basis brauchen wir ein grundlegendes Verständnis davon
wie Narzissmus entsteht
was der Unterschied ist zwischen einem narzisstischen Stil und pathologischem Narzissmus
welche Formen von Narzissmus es gibt
woran man erkennt, das man selbst davon betroffen ist oder von narzisstischen Strukturen umgeben is
wie man lernen kann, mit Narzissmus umzugehen, mit narzisstisch strukturierten Menschen einen angemessenen Umgang zu finden und bei sich selbst Muster zu erkennen und diese schrittweise aufzulösen
Nichts ist per Definition gut oder schlecht. Worte neigen dazu, zu polarisieren, das Sichtfeld einzuengen und ein Denken in Kategorien zu fördern. Wenn ich das Wort Narzissmus verwende, spreche ich allerdings von einem dimensionalen Phänomen, das uns alle betrifft. Alle! Jeder trägt narzisstische Muster in sich, was die zeitgenössische psychologische Forschung darunter versteht, werde ich nun ausführlicher darstellen. Was ist Narzissmus Unter dem Begriff Narzissmus wird eine Gruppe von Eigenschaften der Persönlichkeit gebündelt, die bei jedem Menschen mild bis stark ausgeprägt vorliegen. Unsere Persönlichkeit ist akzentuiert, das heißt wir tragen gewisse Strukturen in uns, auf Basis derer wir Informationen aus der äußeren Welt verarbeiten, Denkprozesse initiieren und Handeln bzw. reagieren. Der Narzissmus ist geprägt durch eine starke Ich-Zentriertheit, das heißt betroffene Menschen kreisen in ihrem Erleben stark um sich selbst. Je stärker narzisstische Strukturen ausgeprägt sind, umso größere Schwierigkeiten haben Betroffene, sich in die Perspektive anderer Menschen zu versetzen.
Das Ich-Gefühl ist stark mentalisiert, was soviel bedeutet, dass Gedanken in Kombination mit extremen Gefühlen die Psyche dominieren. Der typische Narzisst hat starke Annahmen über sich und die Welt, zeigt sich in seinem Denken rigide und unflexibel.
Was den Narzissmus ausmacht, ist eine Tendenz zur sozialen Dominanz und dem Setzen von Verhaltensregeln für andere. Paradoxerweise halten sich Narzissten oft aber selbst nicht an die Regeln, die sie für andere setzen, sondern neigen selbst zu abweichenden bis hin zu kriminellen Handlungen.
Es liegt eine Pseudo-Moral vor, in der das Verhalten der anderen und das eigene mit zweierlei Maß bewertet wird. Bezogen auf den männlichen Narzissmus zeigt sich durch Chefs, die ihre Mitarbeiter kontrollieren oder Väter/Partner, die unerfüllbare Standards an ihre Familienmitglieder stellen.
Es mangelt oft grundlegend an Mitgefühl und Feinfühligkeit.
Narzissten sind zwar durchaus empathisch, das heißt sie können andere Menschen lesen und analysieren, diese Empathie wird aber hauptsächlich strategisch genutzt, um manipulative Handlungen auszuführen. Manipulation bedeutet, eine andere Person durch strategisches Handeln zu Verhaltensweisen zu bewegen, von denen der ausführende annimmt, das die andere Person diese Handlungen sonst nicht freiwillig machen würde.
Männliche Narzissten sind in der Regeln gut darin, sich durchzusetzen, eigene Bedürfnisse zu befriedigen und können einen durchaus hohen Selbstwert haben, wenn sie erfolgreich sind. Narzissten können so andere Menschen begeistern und erfolgreich für eigene Zwecke einspannen.
Darunter liegt aber immer eine hohe Vulnerabilität und Verletzlichkeit. Diese zeigt sich durch eine massive Kritikanfälligkeit und starke Selbstzweifel bei Misserfolgen, die bis hin zu Suizidalität führen kann. Gemeint ist die narzisstische Krise, die dann kommt, wenn die soziale Umwelt (ob bei der Arbeit oder in der Familie) die hohen Kosten nicht mehr trägt, die der Narzisst durch sein rücksichtsloses Verhalten produziert.
Das bedeutet, dass der Narzissmus geprägt ist durch ein großes Ich und ein kleines Ich, die sich gegenseitig hemmen. Dieses gegenseitige Hemmen und das Vorliegen von 2 parallelen Ich-Zuständen führt zu den Phänomenen von Impulsivität und starken Stimmungsschwankungen, die man häufig bei Narzissten beobachtet. Um dieses Phänomen mehr zu verstehen, ist ein Blick darauf interessant, wie Narzissmus entsteht und welche ursächlichen Wunden unter diesen harten Strukturen der Persönlichkeit zu finden sind.
Wie entsteht Narzissmus? Wir werden komplett abhängig geboren. Unsere zentralen Bedürfniserfahrungen geschehen in Beziehungen, im Austausch mit Autoritätspersonen (meistens zunächst die Eltern). Daraus entsteht eine spezifische Vulnerabilität. Diese Verletzlichkeit formt das tiefere, kindliche Ich, das wir alle in uns tragen. Narzissmus formt sich um die Art und Weise, wie zentrale Beziehungsbedürfnisse befriedigt werden. Unsere wesentlichen Beziehungsbedürfnisse sind jene nach Anerkennung, nach Wichtigkeit, nach Solidarität, Verlässlichkeit, Autonomie und Grenzen. Wenn diese Bedürfnisse nicht-befriedigt oder verletzt werden, was in allen Familien in unterschiedlichem Ausmaß stattfindet, formt sich ein kindliches Ich mit spezifischen Selbstwert-Komplexen. Bei Menschen mit narzisstischen Strukturen liegen hier teils massive Selbstzweifel vor, à la "ich bin anderen nicht wirklich wichtig", "ich werde nicht gesehen", "ich bin nicht gut genug", oder "ich bin nur dann liebenswert, wenn ich x oder y mache", "ich muss mich in der Welt beweisen". Dieses verletzliche, kleine Ich empfindet sich als schwach, unzulänglich, hilflos, da es meist auf Kernfamilien kommt, in denen es massiv kritisiert wurde, nur für Leistung gelobt wurde, hohe Standards gesetzt wurden, oder es umgekehrt massiv in den Himmel gelobt wurde (meistens von der Mutter, "der kleine Prinz"-Syndrom). Daraus ergeben sich verzerrte Wahrnehmungen (auch Schemata genannt) von sich selbst und der Welt. Das Kind entwickelt ein unrealistisches Selbstbild. Es ist entweder ganz toll oder gar nichts wert. Auf dieser Basis formt der junge Mensch kompensatorische Strategien, um in der Welt das zu erhalten, was früher nicht bedingungslos war. Es entsteht ein System, das ständig nach Anerkennung, Größe und Wichtigkeit sucht. Das "große" kompensatorische Ich entsteht. Die Grundlage ist gesetzt für ein narzisstisches System, das sich auszeichnet durch eine (extrem) vulnerable Ebene und eine (extreme) kompensatorische Ebene. So denken, fühlen, erleben und handeln Narzissten in Extremen. Sie haben meist gelernt, dass sie nicht so ok sind, wie sie sind, und deshalb in Beziehungen stets manipulativ und berechnend agieren müssen. Der Narzissmus ist so im Kern eine Schutzstrategie, unter dem die Suche nach Liebe schlummert. Da die zentralen Bedürfnisse aber nie wirklich befriedigt werden, sprich es gibt keine wahre Anerkennung, kein echtes Gefühl von Wichtigkeit, dreht sich das große Ego um sich selbst. Es verbleibt ein Zustand, den ich als ewige Unzufriedenheit bezeichne. Da es an erfüllenden Beziehungen fehlt, sind sogenannte Erfolge (Geld, Macht, Erfolg im Beruf, Sex, Drogen, sportliche Höchstleistungen) immer von flüchtiger Natur. Es fehlt der Zugang zum tieferen Selbst, Verletzlichkeit wird als Bedrohung erlebt, der Narzisst lebt unbeseelt. Auch wenn es auf der Fassade nach Glück aussehen mag, findet sich in der Tiefe Leere. Es gibt dort keine echte Motivation, keine tieferen Aufträge, keinen wirklichen Lebenssinn. Die Persönlichkeitsstruktur des Narzissmus hat große Schwierigkeiten (für manche ist es unmöglich), sich selbst zu erkennen. Der blinde Fleck ist immens, wird nicht gesehen, oft auch nicht von anderen, da das große Selbst so stark dominiert. Über die Jahre formt sich ein System, das immer schwerer zu durchdringen ist, je mehr das Ego sich kristallisiert und verhärtet. Narzissmus lässt sich zudem unterteilen in 3 Sub-Kategorien, die sich in Abhängigkeit vom Erfolg der kompensatorischen Strategien wie folgt darstellen: Erfolgreiche Narzissten kompensieren erfolgreich, sprich sie erreichen in selbstgewählten Lebensbereichen ihre Ziele. Das sind jene Menschen, die man sich typischerweise bei dem Wort "Narzisst" vorstellt. Es sind die Manager in den oberen Führungsebenen, die Chefärzte, usw. Sie machen jene Jobs, die sonst kaum einer freiwillig machen würde (da viel zu anstrengend), sie sind extrem leistungsmotiviert und übertragen ihre Standards gerne auf andere. Erfolgreiche Narzissten können ihr leben durchaus genießen, haben aber große Schwierigkeiten abzuschalten und wirkliche Selbst- und Fremdfürsorge zu betreiben. Gescheiterte Narzissten dahingegen haben bis zu einem gewissen Punkt in ihrem Leben Erfolge, z.B. bis kurz vor dem Staatsexamen im Jura-Studium, scheitern aber dann an entscheidenden Schwellen, da der Druck zu groß wird bei zugleich fehlender intrinsischer Motivation. Sie neigen zu Suchtproblemen und starkem Prokrastinationsverhalten. Oft bleiben sie für Jahre an einer Schwelle stehen (z.B. die letzte Prüfungsleistung), legen diese nicht ab, erzählen aber ihrem ganzen sozialen Umfeld Lügengeschichten von angeblichem Erfolg. Bis das System irgendwann kollabiert.
Erfolglose Narzissten haben nie gelernt, erfolgreich zu kompensieren. Sie leben in ihrer eigenen Fantasiewelt (wo sie irgendwann Millionär oder ähnliches sein werden), ziehen meist nie von zuhause aus, sind oft stark adipös und verbringen den Tag meist vor dem Fernseher oder mit Computerspielen. Hier liegt die größte Spaltung vor zwischen kleinem Ich und dem künstlichen "Riesen"-Ich. Erfolglose Narzissten gelten als weitestgehend therapieresistent, da die Auseinandersetzung mit der Realität zu schmerzhaft ist. Bin ich ein Narzisst? Jeder Mensch trägt narzisstische Strukturen in sich. Indikatoren, dass du ein Thema mit Narzissmus hast, sind u.a. - wenn du Schwierigkeiten hast, Freundschaften aufrecht zu erhalten, dir Menschen oft "nicht genug" sind, dir oft das authentische Interesse an deinen Mitmenschen fehlt - du dich stark angezogen fühlst von Macht, Geld, Status und Kontrolle - du deine Sozialpartner nach o.g. Kriterien auswählst - du Schwierigkeiten hast, deine Emotionen zu spüren, zu entspannen, etwas "nur für dich zu machen" - du spürst, das dein Verlangen nach Anerkennung, dem Gefühl von Wichtigkeit und "von allen geliebt werden wollen" stark ausgeprägt ist - du zu starken Stimmungsschwankungen neigst, pendeln kannst zwischen einem extrem hohen und einem extrem niedrigen Selbstwertgefühl - du dich ständig beweisen musst, über deine körperlichen Grenzen gehst, die Grenzen anderer missachtest, streitsüchtig sein kannst, Recht haben musst & willst, dass andere deinen Standards und Regeln folgen Wie man mit Narzissmus umgeht Zunächst einmal gilt es zu berücksichtigen, dass es sich nach wie vor um einen dimensionalen Ansatz handelt. Ein leicht ausgeprägter narzisstischer Stil kann ein Schutzfaktor sein. Manipulation ist nicht per Definition schlecht, es ist immer eine Frage des "wie", des "wofür" und des Ausmaßes. Auch beim Narzissmus gilt: die Dosis macht das Gift. Egal, ob du selbst unter narzisstischen Strukturen leidest oder einen Umgang mit narzisstischen Arbeitskolleg*innen, Familienmitglieder, (noch) Freunden finden willst, folgende Punkte sind zu beachten: 1. Für Narzissten ist es schwer, ihre Verletzlichkeit und ihre Emotionen zu fühlen und zuzulassen. In Krisenmomenten ist es leichter, aber es ist oft ein gut eingespieltes Kontrollsystem, dass den Zugang zur Ebene der authentischen Bedürfnisse blockiert. 2. Die authentischen Bedürfnisse sind immer die nach wahrer Anerkennung (als Mensch, nicht für das was man leistet), nach Wichtigkeit (auch als Mensch, nicht für den Status/soziale Rollen), nach gesunden Grenzen und nach verlässlichen Beziehungen. Für Narzissten rücken diese Motive immer wieder in den Hintergrund, da sie oft nicht wissen, wie sie diese befriedigen können. 3. Narzissten brauchen Anerkennung für ihre Leistung als Grundlage, um Beziehungen zu führen. Gleichzeitig muss man in der Lage sein, ihnen Grenzen zu setzen. Wer beides kann, kann das Vertrauen von ihnen gewinnen oder zumindest Nähe und Distanz besser regulieren. 4. Es ist eine Kunst, die oft subtilen manipulativen Interaktionsspiele zu erkennen und nicht mitzuspielen. Es geht darum, authentisch zu kommunizieren, ob als Betroffener oder mit einem narzisstischen Gegenüber, d.h. - wie drücke ich echte Anerkennung, Wichtigkeit, Solidarität, gesunde Grenzen aus? 5. Es ist wichtig, die verletzliche Ebene hinter dem oft toxischen Ego zu erkennen. Nicht jeder Narzisst wird sich ändern, er kann es aber nur, wenn er so etwas wie Liebe, Mitgefühl empfindet und zugleich klares und hilfreiches Feedback erhält. Man darf Narzissten nicht zu sehr in Watte packen (das würde als kränkend und "schwach" erlebt werden), sondern muss ihnen Verletzlichkeit authentisch als Zeichen von Stärke vermitteln (was es ja auch ist). 6. Narzissten haben viele positive Eigenschaften. Sie können andere gut motivieren, man kann durchaus Spaß mit ihnen haben, sie sind oft lustig, charismatisch und charmant. Wer in der Lage ist, durch die Fassade hindurchzuschauen, wird noch viel mehr liebenswertes an ihnen entdecken.
7. Wenn alle wohlgemeinten Strategien nicht helfen, braucht es klare Konsequenzen. Dies kann bedeuten, mutig zu sein, um auf Machtmissbräuche durch narzisstischen Strukturen hinzuweisen. Oft dürfen solche Menschen zu lange zu folgenlos agieren, und sie bekommen nie das Feedback, das sie für eine Veränderung brauchen. Für manchen Narzissten geht dies nur durch eine handfeste Krise (wie Verlust von Beziehungen/Karriere, etc.) Insgesamt dauert für jeden Betroffenen eine tiefgehende Veränderung lange. Transformierter Narzissmus kann eine große Bereicherung sein für diese Welt, wenn das essentielle Bedürfnis nach Liebe erkannt und authentisch mit Mitmenschen gelebt wird. Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Artikel zu lesen. Melde dich gerne bei Fragen, oder wenn du Unterstützung brauchst. Alles Liebe Simon
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